Digitalisierung und Schule Teil 2: Vom Beitrag der Medienpädagogik für die Schulentwicklung

Ein Interview mit Prof. Dr. phil. Thomas Knaus von Benedikt Volckart

Im ersten Artikel zum Thema Digitalisierung und Schule beleuchtete ich die Zeit des Homeschoolings aus Sicht eines IT-Lehrers. Mir drängte sich die Frage auf, wie profitabel der (pandemiebedingte) Fernunterricht mit Blick auf den Lernerfolg war. Den Bogen nun etwas weiter gespannt, unterhielt ich mich im Frühjahr 2022 mit einem Profi in diesem Bereich und fragte die Medienpädagogik nach ihrem Beitrag für die Weiterentwicklung der Schule. Außerdem unterhielten wir uns über entscheidende Grundvoraussetzungen für die Medienkompetenzförderung und den mediendidaktisch versierten Unterricht, die eine Schule und – wie sich zeigen wird – insbesondere auch das Lehrpersonal mitbringen muss.

Benedikt Volckart: Herr Professor Dr. Knaus, Sie sind in Ludwigsburg Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Medienpädagogik und Leiter der Abteilung Medienpädagogik. Sie sind außerdem Wissenschaftlicher Direktor des FTzM in Frankfurt am Main und Honorarprofessor für Bildungsinformatik am Fachbereich Informatik & Ingenieurwissenschaften in Frankfurt am Main. Zuvor haben Sie als Universitätsprofessor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg gearbeitet und unter anderem an der Universität Wien waren Sie als Gastprofessor tätig. Ihrer Webseite [https://thomas-knaus.de] konnte ich entnehmen, dass Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte der digitale Wandel in Bildungseinrichtungen, die schulische Medienpädagogik, medienpädagogisches Making, die wissenschaftstheoretische und methodologische Fundierung der Medienpädagogik sowie Bildungsinformatik sind. Ehrenamtlich engagieren Sie sich u. a. im erweiterten Vorstand der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur im Lenkungskreis der Initiative Keine Bildung ohne Medien, in der Gesellschaft für Informatik sowie als Berater der Kultusministerkonferenz; Sie sind außerdem Mitglied der Sektion Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft sowie Sprecher der Fachgruppe Qualitative Forschung.

Ich danke Ihnen sehr für Ihre Bereitschaft der ACM ein Interview zu geben und sich mit mir über IT, Digitalisierung und Schule zu unterhalten. Eine Frage vorab – warum schlägt Ihr Herz für die Medienpädagogik?

Thomas Knaus: Wenn Sie schauen, was nur alleine in den letzten zwanzig Jahren passiert ist: Wie Medien und digitale Technik unsere Gesellschaften und unsere Kultur geprägt haben – wie sie unser Miteinander – ja man kann fast sagen: grundlegend – verändert haben, dann liegt es doch nah, dass Medienpädagogik das interessanteste Fach überhaupt ist. Medienbildung ist meines Erachtens eine der elementaren Bildungsaufgaben unserer Zeit. Denn in einer Zeit, in der fast alles medienbasiert und online ist, ist die Medienbildung nichts Geringeres, als der entscheidende ‚Code‘ für Mündigkeit und Partizipation. Aus diesem Grund engagiere ich mich in der universitären Lehrerinnenbildung, da Lehrerinnen und Lehrer eine sehr zentrale Multiplikatorfunktion in der Förderung von Medienkompetenz innehaben. Was für mich persönlich den besonderen Reiz der wissenschaftlichen Disziplin Medienpädagogik ausmacht ist außerdem, dass sie nicht an den üblichen Disziplingrenzen Halt macht: Die Medienpädagogik ist nicht nur eine erziehungswissenschaftliche Disziplin, mit fachlichen Bezügen in die Medienwissenschaft, sondern ein multidisziplinäres Forschungsfeld, das Bezüge in die Soziologie, in die Psychologie, in die Literaturwissenschaft und auch in die Informatik hat; sie hat zunehmende Praxisrelevanz für Schulen, Hochschulen und außerschulische Bildungseinrichtungen und damit auch für die Sozialpädagogik, die Hochschuldidaktik und die Schulpädagogik und sie verfügt über zahlreiche Schnittstellen mit der politischen Bildung, der kulturellen Bildung wie auch der informatischen Bildung. Dieses sehr weite Forschungs- und Praxisfeld gibt mir viele Anregungen, gibt mir genügend ‚Auslauf‘ und wird tatsächlich nie langweilig.

Benedikt Volckart: Das glaube ich gerne – das sind wirklich vielfältige Bezüge. Lassen Sie uns primär über die Schule sprechen. Was ist in Ihren Augen das oberste Ziel, weshalb Schülerinnen und Schüler die Schule besuchen?

Thomas Knaus: In der erziehungswissenschaftlichen Forschung – genauer in der Schulpädagogik – kennt man im Wesentlichen drei Funktionen von Schule: Da wäre zunächst die Qualifikation. Das ist eine Funktion, die auch im Alltagsverständnis von Schule immer wieder genannt wird. Aber mindestens genauso wichtig ist die Schule als Sozialisationsinstanz – Helmut Fend spricht in diesem Zusammenhang von ‚Reproduktion der Gesellschaft‘ – und natürlich ist die Schule auch ein Ort, an dem die Schülerinnen und Schüler ihre Persönlichkeit entwickeln können. Für mich sind diese drei Ziele gleichwertig. In allen drei Funktionen sehe ich aber wichtige Bezüge zum Thema unseres Gesprächs: Digitale Medien haben nämlich unsere Gesellschaften in den letzten Jahren stark verändert; entsprechend haben digitale Medien deutlich spürbare Auswirkungen auf unser Zusammenleben, unsere Gesellschaft und unsere Kultur. Dass dies auch die Qualifikationsfunktion von Schule betrifft, liegt auf der Hand. Aber wenn Mediatisierung und Digitalisierung als gesellschaftliche Metaprozesse auch unser Zusammenleben verändern, dann ist natürlich auch die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler sowie die Sozialisationsfunktion von Schule betroffen. Aus diesem Grund ist Medienbildung eine elementare Pflichtaufgabe in allen Schulen und in allen Fächern.

Benedikt Volckart: Unsere Leserinnen und Leser sind nicht unbedingt Bildungswissenschaftler. Könnten Sie das Argument noch einmal genauer ausführen: Warum ist die Digitalisierung von Schule auch eine gesellschaftliche Aufgabe?

Thomas Knaus: Ja, gerne. Ich meine, dass sich Schule und Unterricht im Hinblick auf den aktuellen gesellschaftlichen Wandel, der vereinfacht gerne mit ‚Digitalisierung‘ überschrieben wird, verändern können – gleichermaßen müssen sie es aber auch: Einerseits gilt es natürlich, die didaktischen Potentiale digitaler Medien im Unterricht und ihre erweiterten Möglichkeiten für Kommunikation und Kollaboration in der Schule zu nutzen – also das Lehren und Lernen mit Medien: die Mediendidaktik.

Anderseits brauchen wir aufgrund dieser sehr umfassenden gesellschaftlichen Entwicklungen auch curriculare Weiterentwicklungen: Gerade die Relevanz des Lernens über Medien und ein technisch-informatisches Grundverständnis wiegen umso schwerer, wenn die Schule nicht nur ihren Qualifikationsauftrag erfüllen will, sondern als sekundäre Sozialisationsinstanz auch Chancengleichheit anstrebt. Denn die Forschungslage zeigt, dass der sozio-ökonomische Status der Eltern sowohl über Leseleistungen wie auch die Art der Nutzung digitaler Medien in der Familie entscheidet. Da der umfassende Medienwandel alle Menschen betrifft – quasi eine lebenslange Aufgabe ist –, stoßen nicht wenige Familien bei der Medienerziehung ihrer Kinder an Grenzen: Viele von uns können keine guten Vorbilder sein, da wir den vernünftigen Umgang mit digitalen Medien selbst erst noch erlernen. Medienkompetenz fällt eben nicht vom Himmel oder entwickelt sich bei der schlichten Nutzung eines bestimmten Mediums, auch wenn das in der öffentlichen Meinung immer wieder unterstellt wird – die meines Erachtens problematische Bezeichnung ‚digital native‘ legt es ja auch nah. Tatsächlich ist die Förderung von Medienkompetenz eine pädagogische Aufgabe: eine Bildungsaufgabe! Und dabei geht es nicht nur um die Nutzung von Medien und Technik, denn wenn der ‚Kommunikationscode‘ – wie ich eingangs schon sagte – künftig nicht mehr nur die Schrift ist, sondern Bilder, Videos, Programmcode, Algorithmen, Daten und so weiter, dann entscheidet das Beherrschen dieser Codes über nichts Geringeres als Teilhabe und ein gutes Leben in dieser Gesellschaft.

Benedikt Volckart: Das heißt Schulen stehen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern insbesondere vor der Herausforderung, den Schülerinnen und Schülern beizubringen, wie sie eine große Werkstatt voller medialer Werkzeuge so zu verwenden lernen, dass es vor allem ihnen positiv zuträglich ist?

Thomas Knaus: Ja, das kann man so sagen: Es geht darum, die medialen und technischen Möglichkeiten souverän, kreativ und selbstbestimmt für die eigenen Ziele und Bedürfnisse zu nutzen und dadurch allen ermöglichen, unsere Welt – die große Werkstatt, um bei Ihrem Bild zu bleiben – selbst mitzugestalten. Konkret wäre das beispielsweise, wenn wir Medien verwenden, um kritisch Aussagen zu prüfen oder den Wahrheitsgehalt von Informationen zu beurteilen oder auch unsere Umwelt kreativ mitgestalten – damit vielleicht auch etwas besser, schöner, friedlicher oder auch klimafreundlicher zu machen. Aus diesem Grund ist die Schule in Anbetracht von Mediatisierung und Digitalisierung nicht nur in Bezug auf ihre Qualifizierungsfunktion gefragt, sondern auch als Ort der Persönlichkeitsbildung und des sozialen Lernens. Und just das ist ein entscheidender Bestandteil von Medienbildung, in der es nämlich nicht nur um die versierte Technik- oder Mediennutzung geht, sondern die Fähigkeit eines Menschen alle Medien – tradierte Medien, digitale Werkzeuge und Technik im Allgemeinen – selbst- und gesellschaftsbezogen zu reflektieren, mit ihnen analytisch und strukturell Wissen zu erwerben und partizipativ zu handeln.

Benedikt Volckart: Schulen erhalten vom Land Geld um ihre Schule mit IT-Equipment auszustatten – welchen Mehrwert bringt diese Ausstattung?

Thomas Knaus: Selbstverständlich sind mit der Nutzung digitaler Medien in Bildungskontexten einige Potentiale verbunden, aber für die meisten Schulen ist die Unterstützung durch den ‚DigitalPakt‘ des Bundes und der Länder eine erste Voraussetzung, um überhaupt mit digitalen Medien arbeiten zu können. In der Praxis gehört dazu aber freilich noch viel mehr: Zum Beispiel die medienpädagogische Qualifizierung von angehenden Lehrerinnen und Lehrern, adäquate Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten, pädagogisch-didaktische, technische und organisatorisch-juristische Unterstützung von Schulen und vieles mehr. Die meisten Schulen werden derzeit in ihrer Medienentwicklung ziemlich alleine gelassen! Das ist wirklich nicht sinnvoll. Weder mit Blick auf die zuvor schon erwähnten Ziele von Schule und die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, als auch mit Blick auf die Investitionen von Bund, Ländern und Kommunen.

In meinen Forschungs- und Entwicklungsprojekten mit Schulen hat sich immer wieder bestätigt, dass nur dann, wenn die Schulen adäquate Unterstützung erhielten, die Ausstattung didaktisch sinnvoll genutzt wird und dadurch auch die Medienbildung an der Schule einen Schub bekommt. Die adäquate Infrastruktur und die Ausstattung sowie die didaktische, technische und organisatorische Unterstützung sind also eine Grundvoraussetzung – eine primäre Gelingensbedingung. Eine Voraussetzung aber, die ungenutzt bleibt, wenn nicht gleichzeitig auch passende Fortbildungsangebote geschaffen werden und auch angehende Lehrerinnen und Lehrer bereits in ihrem Studium medienpädagogische Inhalte studieren können. Es reicht nämlich nicht aus, wenn eine Schule vernetzt wird und einen Klassensatz Tablets bestellt, wenn keiner in der Schule weiß, wie die Geräte lehrunterstützend oder lernförderlich im Unterricht eingesetzt werden können. Und das gilt sowohl für den fächerübergreifenden als auch für den fachbezogenen Einsatz von Medien. Es klingt merkwürdig, aber die medienpädagogische Grundbildung von angehenden Lehrerinnen und Lehrern ist leider noch immer keine Selbstverständlichkeit.

Benedikt Volckart: Welche Bausteine sind für Sie entscheidend bei dem Ziel, dass digitale Medien in der Schule ihren Nutzen am besten entfalten können?

Thomas Knaus: An dieser Stelle würde ich gerne noch erwähnen, dass guter Unterricht nicht unbedingt Unterricht mit digitalen Medien sein muss. Ich konnte selbst schon erleben, dass aus dem Wunsch ‚digitalen Unterricht‘ anzubieten, ursprünglich aktivierender und kollaborativ ausgerichteter Unterricht zum einseitigen Lehrervortrag an der ‚digitalen Tafel‘ wurde – das kann nicht Ziel ‚guten‘ Unterrichts sein.

Aber zu Ihrer Frage: Klug wäre es meines Erachtens, die erste und zweite Phase der Lehrinnen- und Lehrerausbildung möglichst gut mit digitalen Medien auszustatten und auch Leihgeräte für studentische Praxisprojekte und schulische Praktika anzubieten. Denn, wenn die Lehrerinnen und Lehrer bereits im Rahmen ihrer Ausbildung die Vorzüge des Lehrens und Lernens mit digitalen Medien kennengelernt haben, werden sie in der Schule eine entsprechende Ausstattung in höherem Maße einfordern und sie könnten vielleicht sogar ihre Kolleginnen und Kollegen begeistern. Sich aber nur für die Ausbildung von Lehrenden zu engagieren und diese Lehrenden dann an den Schulen mit nicht-funktionierender und veralteter Technik alleine zu lassen, führt nicht weiter.

Benedikt Volckart: Warum tut sich die Schule mit der Digitalisierung so schwer?

Thomas Knaus: Das der digitale Wandel in der Schule kaum vorankommt, ist übrigens weniger ein finanzielles, als ein organisatorisches Problem: Bei Computer, Internet und digitalen Medien in der Schule berühren sich nämlich die Zuständigkeiten der Länder sowie der Städte, Kreise und Gemeinden. Während die Länder für die Hochschulen und die curricularen Fragen des Unterrichts verantwortlich sind, müssen die Sachaufwandsträger – also die Kommunen, Kreise und Städte – für die nötige sächliche Ausstattung und Infrastruktur aufkommen. Nicht selten führen diese traditionellen Abhängigkeiten zu Hemmnissen, Zurückhaltungen oder Abstimmungsproblemen. Diesen Knoten zu lösen, kann aber nicht alleinige Aufgabe der folgenden Generation von Lehrenden sein. Besser wäre es, wenn Bund und Länder die Schulträger, Schulverbünde und Einzelschulen finanziell und konzeptionell unterstützen, geeignete Infrastrukturen und Unterstützungssysteme aufzubauen, dauerhaft zu betreiben und kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Ein guter Anfang ist inzwischen mit ‚Digitalpakt‘ des BMBF gemacht: Diese gezielte finanzielle Unterstützung des Bundes ist meines Erachtens ein kreativer Versuch mit den bestehenden Hemmnissen umzugehen – es ginge für mich aber noch etwas konsequenter. Dass der Digitalpakt aktuell seine politisch intendierte Wirkung noch nicht entfaltet liegt meines Erachtens primär daran, dass die an die Förderung geknüpften Medienkonzepte manche Schule überfordern: Vielen Schulen – und auch nicht wenigen Schulträgern – fehlt schlicht die medienpädagogische und medientechnische Expertise, um ein ausgereiftes Medienkonzept zu erstellen. Mein Wunsch wäre hier, dass die Schulträger und Länder die Schulen auch konzeptionell unterstützen und die bürokratischen Hürden abbauen. Eine niedrigschwelligere Unterstützung würde die Medienentwicklung aller allgemeinbildenden Schulen deutlich voranbringen.

Einige Städte stehen diesbezüglich noch am Anfang, andere sind schon relativ weit: Beispielsweise in Frankfurt am Main ist bereits im Jahr 2002 gelungen, die Stadt, das Land Hessen und unsere Hochschule an einen Tisch zu bekommen und daher konnten wir im Rahmen eines Kooperationsprojekts ein Unterstützungssystem konzeptionieren, das anschließend mit 152 Schulen über einen Zeitraum von knapp zwei Jahrzenten erprobt und gemeinsam weiterentwickelt wurde. Wir konnten in diesem Forschungs- und Entwicklungsprojekt unter anderem beobachten, dass die unterrichtliche Mediennutzung mit dem Grad der Unterstützung und der Verlässlichkeit der Technik zunimmt und dadurch nicht nur das ‚Lernen mit Medien‘ – also die Mediendidaktik – in höherem Maße stattfindet, sondern aufgrund des selbstverständlicheren und auch zuverlässigeren Zugriffs auf die Medientechnik auch das ‚Lernen über Medien‘ – und damit die Medienkompetenzförderung der Schülerinnen und Schüler – profitiert. Gerade aber das Lernen über Medien lässt sich jedoch nicht allein durch die Bereitstellung technischer Möglichkeiten realisieren, denn hierzu benötigen Lehrende neben eigener Medienkompetenz auch medienpädagogische Kompetenz – beide werden aber leider noch nicht im erforderlichen Maße gefördert.

Benedikt Volckart: Was ist diese medienpädagogische Kompetenz und was wäre Ihres Erachtens zu deren Förderung nötig?

Thomas Knaus: An der Uni Erlangen-Nürnberg – meiner früheren Wirkungsstätte – sowie in Frankfurt am Main und Ludwigsburg, wo ich heute tätig bin, erhalten Lehrende und Lehramtsstudierende geeignete Unterstützung zur Aus- und Fortbildung ihrer medienpädagogischen Kompetenz – das ist die Befähigung, die Lehrende benötigen, um ihrerseits bei Schülerinnen und Schülern Medienkompetenz gezielt fördern zu können. Die Gesellschaft für Kommunikationskultur und Medienpädagogik – die GMK – hat kürzlich erhoben, dass diese Angebote in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung nicht flächendeckend verfügbar sind – mitunter schlicht einfach deswegen, weil auch in den Hochschulen und Universitäten entsprechende Kompetenzen fehlen und einschlägige Professuren und Lehrstühle in der erforderlichen Zahl erst geschaffen werden müssen. Das heißt, es ist aktuell immer noch ‚Glücksache‘, ob eine künftige Lehrerin oder ein angehender Lehrer sich im Rahmen der Ausbildung zunächst eigene Medienkompetenz und darüber hinaus noch medienpädagogische Kompetenz aneignen kann.

Benedikt Volckart: Gibt es eigentlich Studien zu den Potentialen von digitalen Medien in der Schule?

Thomas Knaus: Da gibt es so richtig viele! Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus der Medienpädagogik, aber auch aus der Schulpädagogik und der Mediendidaktik haben sich intensiv mit den Potentialen digitaler Medien für Lehr-Lern- und Bildungskontexte befasst. Alleine meine Kollegin Olga Merz und ich haben im letzten Jahrzehnt gleich sieben Bände zum ‚digitalen Wandel in Bildungseinrichtungen‘ im Münchner kopaed-Verlag veröffentlicht und natürlich haben wir aus unseren Forschungs- und Entwicklungsprojekten mit Schulen noch weitere Artikel veröffentlicht. Fast alle meiner knapp einhundert Artikel finden Sie übrigens frei zugänglich – open access – im Netz: Sie können dazu einfach auf meiner Webseite unter ‚Publikationen‘ [https://thomas-knaus.de/publikationen/] auf die jeweiligen Titel der Texte klicken. Die Links leiten Sie zu den jeweiligen Zeitschriften oder Repositorien weiter. Diese leichte Zugänglichkeit von Wissen ist meines Erachtens bereits ein wesentliches Potential digitaler Medien. Und dieses Beispiel zeigt auch, dass die reine technische Möglichkeit erstmal nichts bringt, wenn wir sinnvolle Dinge nicht entsprechend organisieren. Dazu gehört zum Beispiel, dass ich mit Herausgebern und Verlagen vereinbare, dass meine Texte unter einer freien Lizenz – einer Creative Commons – veröffentlicht werden, damit potentiell alle Interessierten darauf zugreifen können.

In Schule und Unterricht ist das genauso: Nur das Vorhandensein eines digitalen Mediums bringt erstmal nichts, wenn die Lehrerin oder der Lehrer die Medien nicht lehrunterstützend oder lernförderlich einbinden. Dazu braucht es gute Ideen und nachahmenswerte Konzepte. Und auch diese gibt es. Ich habe nur manchmal den Eindruck, dass die Studien- und Forschungsergebnisse wie auch erprobte Ansätze nicht so recht in die Praxis vordringen. Zuletzt konnten wir dies alle im Rahmen des pandemiebedingten Notfall-Fernunterrichts in den Schulen beziehungsweise der Online-Semester an den Universitäten und Hochschulen erleben: Viele Lehrende aus Schulen und Hochschulen machten sich intensive Gedanken, wie sie den jeweiligen Lerngegenstand ihren Schülerinnen und Schülern online näherbringen können und trotz des ‚social distancing‘ mit ihnen in Verbindung bleiben können; andere verteilten einfach schlecht kopierte Skripte oder Lehrbuchtexte… Es ist da wenig verwunderlich, dass der Notfall-Fern-Unterricht in den Schulen wie auch die pandemiebedingten Online-Semester in den Universitäten und Hochschule so unterschiedlich erlebt wurden!

Um diesen Theorie-Praxis-Transfer zu verbessern, habe ich mit meinem Frankfurter Team in den letzten zwölf Jahren die ‚fraMediale‘ organisiert, zu der in den letzten Jahren immer knapp 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Frankfurt gekommen sind. In Anbetracht der 800.000 Lehrerinnen und Lehrer an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland ist das natürlich nichts… Aber wir haben auf der ‚fraMediale‘ nicht nur über die Potentiale digitaler Medien gesprochen, sondern sie auch direkt genutzt: So haben wir alle Vorträge und Workshops aufgezeichnet und als Videos frei verfügbar ins Netz gestellt. Und danach noch die besten Konzepte und Ansätze verschriftlicht und ebenfalls veröffentlicht. Auf diese Weise – das hoffe ich zumindest – können noch weitere Interessierte von unseren Fachtagungen profitieren. [http://framediale.de/]

Benedikt Volckart: Welche IT-Komponenten unterstützen mehr oder welche weniger den Lernerfolg?

Thomas Knaus: In Bezug auf die Infrastruktur in den Schulen gibt es bestimmte IT-Komponenten, wie eine Gebäudeverkabelung mit Wireless-LAN Access Points, Learning Management Systemen, Beamern oder digitalen Tafelsystemen die quasi eine Grundausstattung für eine sinnvolle Mediennutzung in der Schule darstellen – ohne die grundlegende Netzinfrastruktur kann man mit keinem Tablet sinnvoll arbeiten. Bezüglich der Arbeitsgeräte können wir von den Kindern selbst lernen: Während Kinder und Jugendliche digitale Medien längst als Lernmedium nutzen, sich etwa bei YouTube bei den Mathematikhausaufgaben helfen lassen oder zum Erlernen besonderer Skills Video-Tutorials nutzen, haben bisher noch nicht so viele – gerade fachfremde – Lehrerinnen und Lehrer das WWW und Tablets als sinnvolle Lehr- und Lernwerkzeuge entdeckt. Dabei gibt es so viele Möglichkeiten. Und zwar nicht nur, wenn Lehrende das Tablet als Lehrmedium nutzen, sondern vor allem dann, wenn auch Schülerinnen und Schüler selbst mit Tablets im Unterricht arbeiten können. Die sinnvolle Nutzung der Lehrenden ist dafür aber ein nicht zu unterschätzender Eisbrecher. Hier würde es helfen, wenn Schulen Lehrerinnen und Lehrern unkompliziert Tablets zur Verfügung zu stellen und bei den ersten Schritten damit pädagogisch-didaktisch unterstützen. Wir haben damit in den schon erwähnten Schulprojekten in Frankfurt sehr gute Erfahrungen damit gemacht: Wichtig ist der erste Schritt und natürlich auch die gezielte und möglichst unbürokratische Unterstützung.

Benedikt Volckart: Ein Blick in die Zukunft: Wie sieht Ihre Vision für das Thema IT und Schule aus?

Thomas Knaus: Bei ‚Visionen‘ muss ich immer an den Altbundeskanzler Helmut Schmidt denken, der mal sagte, dass Menschen, die Visionen haben, besser zum Arzt gehen sollten. [Lacht] Aber danke für die schöne Frage… in der Tat habe ich ein paar ganz konkrete Wünsche.

In Ludwigsburg studieren jedes Semester über 600 Studierende bei mir und meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern medienpädagogische Inhalte. Aus den Praktikumserfahrungen meiner Studierenden weiß ich, dass leider die wenigsten Schulen über die nötige grundlegende Infrastruktur und Ausstattungen verfügen. Daher können unsere Studierenden ihre im Studium erworbenen Kenntnisse nur selten direkt anwenden. Wenn unsere Studierenden in der Schule ankommen, beginnt für sie oft die ‚mediale Steinzeit‘: Mit einem Overheadprojektor und einem defekten Videowagen lassen sich die im Studium kennengelernten medienbasierten Unterrichtskonzepte einfach nicht umsetzen. Für unsere Studierenden wünsche ich mir daher, dass sie möglichst an jeder Schule die Grundvoraussetzungen vorfinden, um sowohl medienpädagogisch mit ihren Schülerinnen und Schülern zu arbeiten, als auch die mediendidaktischen Potentiale in ihrem Unterricht ganz selbstverständlich zu nutzen. Damit will ich nicht sagen, dass nur Unterricht mit digitalen Medien ‚guter Unterricht‘ wäre – keineswegs –, aber alle Lehrerinnen und Lehrer sollten die Wahl für das beste Medium treffen können, das sie sich zur Bearbeitung des jeweiligen Lerngegenstands wünschen.

Für alle Lehramtsstudierenden, die nicht an einer Universität studieren, an der sie eigene Medienkompetenz, medienpädagogische Kompetenz und mediendidaktische Fertigkeiten erwerben können, wünsche ich mir, dass die Medienpädagogik stärker als Studienfach in der Lehramtsausbildung etabliert wird. Wir haben erhoben, dass an lediglich 51 der 426 deutschen Hochschulen medienpädagogische Kenntnisse erworben werden können. Das ist in Anbetracht der Erklärungen der Kultusministerkonferenz, die bereits in 2012 und noch einmal in 2016 eine umfänglichere Berücksichtigung der Medienbildung im deutschen Bildungssystem forderten, absolut unverständlich.

Und da man ja immer drei Wünsche hat [lacht], wünsche ich allen Schulen, dass sie von Seiten der Kommunen und der Länder die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, um die zum Beispiel in Baden-Württemberg im Bildungsplan vorgeschriebene ‚Leitperspektive Medienbildung‘ erfüllen zu können.

Benedikt Volckart: Es scheint mir, dass der Digitalisierung der Schule noch ein weiter Weg bevorsteht. Von Ihrer Webseite weiß ich, dass Sie begeisterter Fernwanderer und Marathonläufer sind. Denken Sie, dass dieser lange Weg zu bewältigen ist?

Thomas Knaus: Da stimme ich Ihnen zu: Bezüglich der Medienentwicklung im Bildungsbereich steht uns in Deutschland noch ein wirklich laaanger Weg bevor. Andere Länder sind da tatsächlich weiter. In meinen Forschungsaufenthalten in Australien, Neuseeland und Singapur konnte ich mich davon überzeugen: Ich habe dort eine viel größere Offenheit gegenüber digitalen Medien wahrgenommen – die Debatte ist insgesamt pragmatischer und weniger ideologisch. Auch viele unserer Nachbarn im Norden von Europa sind uns bezüglich der Medienintegration in der Schule voraus. Wahrscheinlich liegt das nicht nur den bürokratischen Hürden, über die wir bereits gesprochen haben. Oft nehme ich auch überholte Ressentiments wahr: So ist beispielsweise die Unterscheidung zwischen Erlebnissen im Netz und im ‚echten Leben‘ eine durch und durch deutsche Denkweise. Kinder, Jugendliche und auch einige meiner Studierenden sagen aber zunehmend: Ich habe nur ein Leben, das ‚Virtuelle‘ ist für mich Real und auch online sind wir sehr ‚präsent‘. Und mir als Medienpädagoge und ‚digital founder‘ gefällt es, dass unsere Gesellschaft endlich ihre neuen Handlungsräume erobert.

Naja und als ‚Marathoni‘ weiß ich, dass selbst der längste Weg irgendwann bewältigt ist. Ein Problem mit dieser Weg-Analogie ist lediglich, dass sich aufgrund der steten Weiterentwicklung der digitalen Medien das Ziel weiter entfernt… Beim Marathon, wenn es bei Kilometer 36 langsam schmerzhaft wird, entfernt sich das Ziel glücklicherweise nicht. Bezüglich technischer und medialer Innovationen leben wir gerade in einer sehr umtriebigen Zeit. Anderseits muss aber auch nicht jede technische Innovation den Weg in die Schule finden. Die Schule richtet sich zwar an der Gesellschaft aus. Nur dann kann sie ihre Funktion erfüllen, über die wir schon anfangs gesprochen haben: Nämlich die ‚Reproduktion der Gesellschaft‘. Aber die Schule darf meines Erachtens durchaus unserer sehr schnelllebigen gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung etwas hinterherhinken. Das ermöglicht ein kritisches Innehalten bezüglich der Medien- und Technikentwicklung – dieses Innehalten finde ich nicht unwesentlich. Die Medienbildungsentwicklung in Deutschland in den letzten zwanzig – inzwischen fast dreißig – Jahren kann man aber wohl eher nicht als ‚kritisches Innehalten‘ verstehen, sondern das war wohl eher ein Verschlafen seitens der deutschen Bildungspolitik.

Benedikt Volckart: Herr Professor Knaus, ich bedanke mich herzlich für dieses Interview, Ihre Zeit und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute, die Medienpädagogik voran zu bringen!

Thomas Knaus: Sehr gerne. Ich versuche es. Besten Dank!

Links zu weiterführenden Informationen über die Arbeit von Professor Dr. Knaus:

https://thomas-knaus.de

www.youtube.de/c/ThomasKnaus

https://www.ph-ludwigsburg.de/fakultaet-1/institut-fuer-erziehungswissenschaft/medienpaedagogik

http://ftzm.de/

http://framediale.de/

Marc-Oliver Pahl
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